Mountain Lion: Die Macht der Cloud
Wenn Mountain Lion diesen Sommer erscheint, wird es das neunte Major-Release in der etwas über elfjährigen Geschichte von OS X sein. Angekündigt mit einer schlichten Pressemitteilung, ohne öffentliche Präsentation, überhaupt im Bemühen, kein übermässiges Aufsehen zu erregen. Einige wenige Medienschaffende wurden bereits letzte Woche von Apple ins Vertrauen gezogen und durften im Vorab einen Blick auf Mountain Lion werfen. John Gruber, Betreiber des Blogs «Daring Fireball», schildert die beinahe absurd anmutende Szenerie: Eingeladen zu einem privaten «Product Briefing» führt ihm Apple-Marketingchef Phil Schiller die Neuerungen in Mountain Lion höchstpersönlich vor. Nur vier Personen nehmen an der streng geheimen Präsentation teil: Blog-Betreiber John Gruber, Phil Schiller sowie zwei weitere Mitarbeiter aus Apples PR-Abteilung. Kaum war die Präsentation beendet - John Gruber erhielt zu Testzwecken anschliessend ein MacBook Air mit vorinstalliertem Mountain-Lion-Betriebssystem ausgehändigt - zogen die drei Herren aus Cupertino weiter und luden weitere Journalisten zu vergleichbaren Veranstaltungen ein. Die Neuerungen in Mountain Lion klingen interessant, aber wenig spektakulär. Vieles ist bereits aus iOS bekannt, auf seiner Webseite zählt Apple in erster Linie eine Reihe neuer Apps auf, innovative neue Technologien sucht man hingegen vergebens. Vielleicht mag dies der Grund dafür sein, dass Apple vor einer öffentlichen Präsentation der neuen Mac-Software zurückscheute. Vielleicht steckt aber auch mehr hinter Apples Versteckspiel. Jim Dalrymple, neben John Gruber einer der wenigen auserwählten Vorabtester des neuen Mac-Betriebssystems, schildert seine Eindrücke im Blog «The Loop» und schliesst mit der Feststellung, Mountain Lion besitze das Potential, das bisher bedeutendste OS-X-Release zu werden. John Gruber seinerseits will die hinsichtlich der Datenverwaltung grössten Veränderungen in der 28-jährigen Geschichte des Mac-Betriebssystems ausgemacht haben.
Apples Verwaltungsreform
Worin liegt das Geheimnis von Mountain Lion? Kurz gesagt: Mountain Lion bricht mit dem Paradigma, dass der Anwender die Kontrolle über die Verwaltung seiner Daten besitzt. Damit rüttelt Apple an den Grundfesten der Frage, wie ein Computer zu funktionieren hat. Nach herkömmlicher Vorstellung ist ein Computer eine Maschine, welche Befehle des Anwenders ausführt. Der Anwender kontrolliert und steuert den Computer - was ein minimales Verständnis für die Funktionsweise eines Computers voraussetzt. Hardwaremässig hat es Apple spätestens mit dem MacBook Air geschafft, dem Computer jeglichen Charakter einer mechanischen Maschine, welche dröhnt und rattert, zu nehmen. Mit Mountain Lion arbeitet Cupertino nun an der softwareseitigen Vollendung dieses Paradigmenwechsels.
Im Alltag sieht die Veränderung harmlos aus. Öffnet man unter Mountain Lion ein Programm wie TextEdit oder Pages, so erhält man eine Übersicht über seine Dokumente. Man kann wie gewohnt ein bestehendes Dokument öffnen oder ein neues erstellen. In letzterem Fall wird das neue Dokument automatisch in der erwähnten Übersicht, dargestellt im Sichern-Dialog, angezeigt. Klingt soweit alles ziemlich vertraut, möchte man meinen. Die Neuerung liegt darin, dass sämtliche der angezeigten Dokumente gar nicht auf dem Computer gespeichert sind. Apple nennt diese Funktion (der Begriff ist nicht ganz neu) «Documents in the Cloud». Der Clou dabei: Jedes Programm legt seine Dateien automatisch in Apples iCloud ab, wo sie über jeden Mac, jedes iPhone und jedes iPad zugänglich sind.
Wer seine Daten in die iCloud legt, kann sie jederzeit von jedem Gerät aus abrufen und bearbeiten. Man braucht sich nicht mehr darum zu kümmern, wo die Daten gespeichert und wie sie verwaltet werden. Oder um es etwas deutlicher auszudrücken. Man hat schlicht keinen Einfluss mehr darauf, wo die Daten gespeichert und wie sie verwaltet werden. Im Endeffekt kann man sich den gesamten Finder komplett sparen. Der Computer entzieht dem Anwender die Kontrolle darüber, welche Dokumente wie abgelegt und welchem Programm zugeordnet werden.
Was Apple hier vollzieht, ist eine Art digitale Verwaltungsreform.
Wie von Zauberhand
Wer sich schon für Computer interessierte, als Apple noch ein junges, unbekanntes Unternehmen war und der Mac in den Kinderschuhen steckte, der wird sich sicher noch daran erinnern, dass die ersten Macs gar keinen internen Massenspeicher besassen. Jedes Programm war, zusammen mit den zugehörigen Dokumenten, auf einer separaten Diskette gespeichert. Es war die Aufgabe des Anwenders, den Mac mit den richtigen Daten zu füttern, um eine bestimmte Arbeit auszuführen. Später stattete Apple seine Rechner mit einer Festplatte aus und spendierte dem Mac-System jenes Stück Verwaltungssoftware, welches wir heute als den Finder kennen. Damit erübrigte sich das ständige Diskettenwechseln. Die Vorstellung jedoch, wonach sämtliche Daten an ein physisches Speichermedium wie eine Festplatte, eine CD oder DVD, gebunden waren, blieb bestehen und verankerte sich in den Köpfen einer ganzen Generation von Computeranwendern.
Die nächste Generation, welche nicht nur mit dem iPhone, sondern auch mit Diensten wie der iCloud aufgewachsen sein wird, wird dieses Verständnis für die Funktionsweise eines Computers nicht mehr benötigen. Mit der iCloud und dem App Store verschwinden die Grenzen zwischen den eigentlichen Geräten. Es spielt keine Rolle mehr, auf welchem Mac, iPad oder iPhone man ein Programm erwirbt oder ein Dokument erstellt, sämtliche Daten sind von jedem Gerät aus zugänglich, ohne dass sie auch nur auf einem einzigen Gerät lokal gespeichert wären.
Einmal zu Ende gedacht, reduziert sich der Mac zu einem Instrument, um auf Daten aus der Cloud zuzugreifen, gewissermassen reduziert sich der Computer auf den Bildschirm. Mac und iOS-Geräte werden dadurch gleichwertig, sie bilden unterschiedliche Zugänge zu denselben Datensätzen. Gleichzeitig behält der Mac seine klassische Oberfläche und sein Bedienkonzept. Befürchtungen, wonach Apple iOS und OS X verschmelzen werde, werden sich auch längerfristig nicht bewahrheiten. In einem Interview mit dem Wall Street Journal bekräftigte Tim Cook einmal mehr seine Ansicht, wonach Notebooks und Tablets noch lange nebeneinander bestehen werden.
Der Computer entzieht dem Anwender die Kontrolle über seine Daten und schafft damit ein Gefühl der Freiheit. In dieser Welt ist der Anwender befreit davon, sein iPhone über iTunes zu synchronisieren, überhaupt irgendwelche Daten zwischen mehreren Geräten abzugleichen. Man ist frei davon, sich mit Speichermedien wie CDs oder DVDs abzugeben, Software manuell zu installieren und jedes Programm nur auf einem einzelnen Rechner ausführen zu dürfen.
Ganz so weit sind wir freilich noch nicht. Die iCloud-Nutzung ist vorerst lediglich ein optionales Feature von Mountain Lion. Ohnehin erhalten - gemäss Apple aus Sicherheitsgründen - nur Programme aus dem Mac App Store Zugriff auf die iCloud. Doch die Verknüpfung von Betriebssystem und iCloud übersteigt sämtliche bereits bekannten Cloud-Services bei weitem. Praktisch alle neuen Apps nutzen die iCloud. Mit Mountain Lion verlagert man sämtliche Mails, Nachrichten, Notizen, Erinnerungen und Dokumente in die Wolke.
Geschlossene Gesellschaft
Steve Jobs, Apples kürzlich verstorbene Lichtgestalt, bezeichnete die iCloud als das Fundament für alles, was Apple in den nächsten zehn Jahren vorhabe. Zwar war sich Jobs nie um die Verwendung pathetischer Worte verlegen, doch im Falle der iCloud wird Apples Gründer Recht behalten. Apples Verwaltungsreform gipfelt in einer Konsequenz, deren Auswirkungen sich erst vage abzeichnen. Nicht mehr der Mensch besitzt die Kontrolle über den Computer, sondern der Computer besitzt die Kontrolle über den Menschen. Oder, um es beim Namen zu nennen: Apple besitzt die Kontrolle über Mac-, iPhone- und iPad-Anwender. Dies ist der Preis für die neu gewonnene Freiheit.
Wer seine Daten in der iCloud ablegt, unterwirft sich Apples Spielregeln, über welche Wege man auf seine Daten zugreifen kann. Apples Spielregeln sind klar: Um auf die iCloud zuzugreifen, benötigt man im Grunde einen Mac oder ein iOS-Device. Theoretisch kann man auch via Browser zumindest auf einige der iCloud-Datensätze zugreifen, doch bei dieser Vorgehensweise verschwindet der ganze Zauber, welcher die Cloud umgibt.
Apples iCloud-Herrlichkeit entspricht einer geschlossenen Gesellschaft. Fremde Smartphones, Tablets und Computer erhalten keinen Zutritt. Erst durch diese Massnahme kann die iCloud überhaupt funktionieren. Natürlich ist die Nutzung der iCloud freiwillig, niemand wird gezwungen, sich Apples Spielregeln zu unterjochen. Mountain Lion, und mittelfristig wohl auch alle Nachfolgeprodukte, werden sich auch in gewohnter Weise gänzlich ohne Cloud-Anbindung nutzen lassen. Doch früher oder später wird es immer anstrengender werden, sich der iCloud-Realität zu verweigern.
Es erinnert an die Vorstellung, wie man auf dem Bahnsteig steht und der Zug fährt los. Je länger man wartet, desto schwieriger wird es, auf den immer schneller werdenden Zug aufzuspringen. Kaum hat man es doch noch geschafft, macht sich schlagartig das Bewusstsein breit, dass es kein Zurück mehr gibt. Was bleibt, ist das bedrückende Gefühl, nicht zu wissen, wohin die Reise führt.
Die iCloud entspricht einer Einbahnstrasse. Wer seine Daten erst einmal der Kontrolle der iCloud unterstellt hat, wird kaum mehr aus dem Apple-Ökosystem ausbrechen können. Nicht weil Apple seine Anwender künstlich binden würde, sondern weil die gesamte Pracht der iCloud zusammenbricht, sobald man Geräte verwendet, welche keinen Zugang zu Apples Wolke besitzen.
Die Macht der Cloud
Diese Einsicht offenbart die Macht, welche die iCloud Apple verleiht. Anbieter von Cloud-Dienstleistungen gibt es wie Sand am Meer, doch Apple ist der einzige Player im Markt, welcher vom PC bis zum Smartphone alle wichtigen Zugangsgeräte anbietet. Und damit verschafft sich Apple sowohl im Konkurrenzkampf mit Google im Smartphonegeschäft als auch im Konkurrenzkampf mit Microsoft im PC-Geschäft einen unschätzbaren Vorteil. Wer einmal ein iPhone besitzt, erhöht dessen Nutzen dank der iCloud ungemein, wenn sein nächster PC ebenfalls aus dem Hause Apple stammt. Die gleiche Wahrheit gilt natürlich im umgekehrten Fall sowie auch im Tablet-Geschäft. Besitzt man erst einmal ein vollständiges Set an Geräten mit dem Apple-Emblem, welche allesamt auf die iCloud zugreifen, so wäre es völliger Unsinn, jemals wieder ein Device mit Googles Android oder Microsoft Windows zu erwerben.
In meinen Augen stellt die iCloud insbesondere für Microsoft eine echte Bedrohung dar. Microsoft besitzt zwar ebenfalls einen Cloud-Service und wird mit der Einführung von Windows 8 Ende Jahr endlich über ein Tablet-Betriebssystem verfügen, doch die Nutzerbasis ausserhalb des traditionellen Windows-Kerngeschäftes ist extrem gering. Gleichzeitig droht genau diese Nutzerbasis mehr und mehr zu erodieren, weil der Mac - durch die iCloud - für sämtliche iPhone- und iPad-Nutzer auf einen Schlag zu einer ungeheuer attraktiven Alternative wird.
Doch auch für die Anbieter von Mac-Software droht Ungemach. Apple hat sich in den vergangenen Jahren als unglaublicher Innovationsmotor für die gesamte digitale Welt erwiesen, wovon viele Mitstreiter ungemein profitiert haben. Nun stellt sich nicht nur für Mac-Anwender, sondern auch für Drittanbieter die Frage, ob sie an Apples iCloud-Herrlichkeit teilhaben wollen. Hersteller, die mit ihrer Software Gebrauch von «Documents in the Cloud» machen möchten, haben sich, wie die Anwender auch, an von Apple diktierte Spielregeln zu halten. So müssen sie beispielsweise ihre Programme über den Mac App Store vertreiben und damit im Prinzip sämtliche herkömmlichen Vertriebsstrategien aufgeben. Ausserdem wird es für unabhängige Softwareentwickler nahezu unmöglich werden, weiterhin Parität zwischen Mac- und Windows-Versionen ihrer Software zu gewährleisten.
Stillstand verboten
Weigert sich ein Hersteller hingegen, Apples Pfad in den Mac App Store zu folgen, so dürfte es je länger je schwieriger werden, alternative Vertriebswege für Mac-Software zu nutzen. Es bleibt nicht viel Zeit, um sich für oder gegen Apples Weg zu entscheiden.
Denn eines ist klar: Der Mac-Markt wird in den kommenden Jahren massiv an Dynamik zulegen. Mountain Lion ist erst der Anfang. Apple plant, die Entwicklung von OS X künftig im gleichen Rhythmus wie iOS mit einem jährlichen Major-Update voranzutreiben. Heute mag die iCloud noch in den Kinderschuhen stecken und in ihren Möglichkeiten arg begrenzt wirken, aber schon in wenigen Jahren könnte die iCloud ein unverzichtbarer Bestandteil sämtlicher Apple-Produkte sein. Wer sich heute einen neuen Mac zulegt, wird innerhalb der nächsten zweieinhalb Jahre mit insgesamt vier Major-Releases von OS X in Kontakt kommen. Damit setzt Apple nicht nur die Konkurrenz, sondern auch die Mac-Anwender und die Entwicklergemeinde unter enormen Zeitdruck. Denn wer weiss schon, wie die iCloud in zwei oder drei Jahren aussehen wird?
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18 Kommentare
Kommentar von MacThomas57
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Kommentar von Vermithrax
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Kommentar von Vermithrax
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