Kernfragen
Wer heutzutage einen Mac-User nach seinen Wünschen für kommende OS-X-Generationen befragt, stolpert immer häufiger über Antworten wie «Apple soll den Linux-Kernel in Mac OS X einbauen, denn Linux ist ohnehin besser als Darwin» oder «Apple soll es möglich machen, Windows-Programme unter OS X auszuführen» oder «Ein neues Dateisystem muss endlich her!». Noch vor fünf Jahren war es völlig undenkbar, solche Worte aus dem Mund eines Apple-Fans zu hören. Als Apple die ersten Informationen über Mac OS X durchsickern liess, wurde die Entwicklung des neuen Systems von vielen alten Mac-Hasen mit grosser Skepsis beäugt. «Für was braucht ein modernes System noch eine Kommandozeile?». «Kann OS X denn wenigstens 68k-Programme starten?». «Bleibt vom Macintosh überhaupt noch etwas übrig?» Für Apple war es keine leichte Aufgabe, die alteingesessenen Kunden vom Nutzen eines Betriebssystems mit zeitgemässer Architektur zu überzeugen. Viele einst treue Mac-Anwender sind noch heute nicht wirklich begeistert von Mac OS X. Sie fühlen sich von Apple im Stich gelassen. An ihrer Stelle haben immer mehr Apple-Kunden ihre Wurzeln in der Windows-Welt und sind nur deshalb zum Mac gewechselt, um den Problemen des Windows-Alltages zu entfliehen. Mit Mac OS X muss Apple zwei Kundengruppen mit völlig unterschiedlichen Interessen und Computerkulturen bedienen. Jetzt, wo mit Vista und Leopard gleich zwei neue Systeme vor der Tür stehen, sind die unterschiedlichen Denkweisen der OS-X-User nicht mehr zu übersehen. Die alte Schule der Mac-Anwender wünscht sich, dass Apple mit Leopard auf bewährte Konzepte setzt und alte Ideale der Macintosh-Philosophie hochhält. Auf der anderen Seite steht die neue Generation der Apple-Anhänger, die sich nichts sehnlicher wünscht, als dass der Leopard seine Krallen ausfährt und den Kopiermaschinen aus Redmond zeigt, wo der Hammer hängt. Doch wo steht Apple? Wie sieht Cupertinos Antwort auf Windows Vista aus?
Zu Zeiten des klassischen Mac-Betriebssystems hatte Apple stets versucht, das Augenmerk der Öffentlichkeit von den technischen Fragen fern zu halten. Verglichen mit den Konkurrenzprodukten war das Mac-System spätestens ab Version 8 hoffnungslos veraltet. Mac OS 8 beherrschte weder Multitasking noch Speicherschutz, konnte keine Mehrprozessorsysteme ansprechen und verfügte über keine zeitgemässe Entwicklungsumgebung. Doch Apple war vom Erfolg seines Systems abhängig. Um sich von der Konkurrenz abzuheben, stellte Apple andere Kriterien in den Vordergrund. Das Mac OS galt als äusserst ressourcenschonend, zuverlässig und fehlerfrei, als einfach zu bedienen und zu administrieren. Es verfügte über eine freundliche und grösstenteils einheitliche Benutzeroberfläche. Dies waren die Punkte, mit denen sich das Mac OS seit jeher von Windows und den zahlreichen UNIX-Derivaten absetzte. Sie bildeten die Seele des Macintoshs.
Als Apple sich anschickte, 2001 mit einem völlig neuen OS den Markt aufzurollen, waren die Befürchtungen der Mac-Veteranen, Apple würde den Blick fürs Wesentliche verlieren, durchaus berechtigt. Die ersten Versionen von Mac OS X waren nicht mehr als eine beeindruckende Technologiedemo, für den Einsatz in Produktivumgebungen war OS X frühestens ab Version 10.2 geeignet.
Mit der neuen Technologiebasis vollzog Apple eine ziemlich radikale Kehrtwende. Mac OS X wurde von Anfang an als «fortschrittlichstes Betriebssystem der Welt» beworben. Auf einmal standen die Technik und die Architektur im Vordergrund. In Mac OS X sah Apple eine grosse Chance, neue Märkte zu erschliessen. Das neue Mac-System sollte neue Kundenschichten ansprechen. Leute, die mit System 7 oder Mac OS 9 nie etwas anfangen konnten, sollten durch OS X in das Mac-Lager gelockt werden. Als Konsequenz passte Apple sein System mehr und mehr den Ansprüchen der ehemaligen Windows- und Linux-Anwender an. Auf einmal orientierte sich Apple an jenen Menschen, die nie verstanden haben, was den Mac so besonders macht. Schon 2001 und 2002 bereitete dieser Widerspruch vielen Mac-Anwendern grosse Sorgen. Doch der Erfolg gab Apple Recht. Nach einem harzigen Start verlief der Umstieg auf Mac OS X zügig und problemlos. Apple verbesserte sein neues System in Rekordtempo und auch die Drittanbieter sprangen auf den immer schneller fahrenden OS-X-Zug auf.
Unterdessen ist Mac OS X in aller Munde. Die Medienpräsenz, die Tiger geniesst, ist unglaublich hoch. Egal wohin man schaut, überall findet man lobende Worte für das aktuelle Mac-Betriebssystem. Mit seiner schnellen Entwicklungsstrategie konnte Apple die Wünsche aller Anwender bedienen. Von den zahlreichen Verbesserungen der letzten Jahre profitierten sowohl die langjährigen Mac-Anwender als auch die junge Switcher-Generation.
Aber nun muss sich Apple entscheiden, wohin die Reise in der Zukunft gehen wird. Im Gegensatz zu Puma, Jaguar, Panther und Tiger wird Leopard nicht mehr in erster Linie Verbesserungen an bestehenden Komponenten, sondern komplett neue Funktionen mit sich bringen. Denn seit Tiger arbeiten alle wesentlichen Systemkomponenten schnell und zuverlässig, der Spielraum für Verbesserungen am Grundgerüst ist klein geworden.
Es wird interessant zu beobachten sein, wo Apple seine Schwerpunkte setzen wird. Viele Anwender erwarten von Apple einen technisch hochgerüsteten Leoparden, um gegenüber Vista einen Vorsprung zu besitzen. Die Chancen, dass Apple tatsächlich so vorgehen wird, sind allem Anschein nach ziemlich hoch. Boot Camp hat gezeigt, dass Apple auf die Wünsche der Switcher hört.
Ich persönlich halte es für wichtig, dass sich Apple nicht zu stark auf Vista konzentriert. Die Rufe einiger Anwender nach umfangreichen Änderungen an der OS-X-Architektur kann ich nicht nachvollziehen. Die Architektur von Mac OS X ist nach wie vor erstklassig. Es ist unwesentlich, ob der Linux-Kernel gewisse Typen von Berechnungen um einige Prozent schneller erledigen kann als der OS-X-Unterbau, als Anwender spürt man davon ohnehin nichts. Punkto Stabilität, Geschwindigkeit und Zuverlässigkeit erweist sich Mac OS X im Alltag als sehr gut - als mindestens so gut wie Linux. Und das ist schliesslich entscheidend. Hinzu kommt, dass Apple in der Lage ist, das Entwicklungstempo auf einem unglaublich hohen Niveau zu halten, was ebenfalls für die Qualitäten der Architektur spricht. Szenarien, nach denen Apple in einigen Jahren den Anschluss an Linux verlieren könnte, halte ich für völlig unrealistisch.
Eines scheinen viele Mac-Anwender zu vergessen: Je mehr sich Apple auf ein Wettrüsten der Betriebssysteme konzentriert, desto mehr wird sich Mac OS X an Windows und an Linux angleichen. Hier lauert die wirkliche Gefahr für Apple. Vergleicht man die aktuellen Betriebssysteme, so werden die technologischen Unterschiede immer kleiner. Vista ist nicht deshalb so schlecht, weil es technologisch hinterher hinkt, sondern weil sich an der umständlichen Bedienung im Vergleich mit XP nichts verbessert hat. Das Gleiche gilt für Linux. Ein moderner Kernel macht noch lange kein gutes System aus. Linux ist auch heute noch kaum bedienbar, da jegliche Einheitlichkeit in der Benutzerführung fehlt.
Das ist der Punkt, an dem sich Apple profilieren kann. Hier liegen die Stärken und die Vorteile des Macs. Möge Apple sich hierauf besinnen und mit Leopard ein System ausliefern, welches diejenigen Qualitäten hochleben lässt, mit denen der Macintosh vor mehr als 20 Jahren die Computerwelt revolutioniert hat.
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