Gedanken zu Apples Bildungsoffensive
Wenn Apple zu einem Special-Event lädt, wird es selten langweilig. So ist die Regel. Doch keine Regel bleibt ohne Ausnahme. Gestern war ein solcher Fall. Selten stiess eine Apple-Keynote auf derart wenig Beachtung. Was sind die Gründe? Und wie sind die gestrigen Ankündigungen einzustufen? Hier sind fünf Gedanken zu Apples Bildungsoffensive:
1.) Apple ist und bleibt ein uramerikanisches Unternehmen
Wer während der gestrigen Keynote (welche um 16 Uhr unserer Zeit stattfand) auf der Arbeit war und dachte, er (oder sie) könne sich nach Feierabend in aller Ruhe über Apples neuste Pläne informieren, sah sich mit einer ungewohnten Hürde konfrontiert. Vom Tagesanzeiger-Newsnetz bis zu 20 Minuten Online verzichteten praktisch sämtliche Schweizer Medien auf eine ernstzunehmende Berichterstattung.
Wie kommt es, dass die sonst so in Apple vernarrte Schweizer Medienlandschaft die gestrigen Ereignisse völlig ignoriert? Ganz einfach: Für gewöhnlich berichten die Medien vor allem über jene Dinge, welche ihnen - zum Beispiel in Form einer druckfertigen Medienmitteilung - vorgelegt werden. Doch gestern hielt es Apple offenbar nicht für nötig, eine Medienmitteilung zu veröffentlichen. Das muss man sich einmal vorstellen: Unternehmen besitzen üblicherweise die Angewohnheit, wegen jeder Kleinigkeit eine Medienmitteilung zu publizieren. Apple macht da keine Ausnahme, die letzte breit gestreute Medienmitteilung aus Cupertino ist noch keine Woche alt (Thema: «2012 Apple Supplier Responsibility Progress Report»). Ich mag mich auf die Schnelle nicht daran erinnern, dass Apple uns je nach einer Keynote nicht umgehend eine Medienmitteilung zugestellt hätte. Weshalb verzichtete Apple ausgerechnet gestern darauf? Interessanterweise findet man auf Apples US-Website sehr wohl eine Medienmitteilung zu den Neuerungen des gestrigen Special-Events. Hat Apple die Schweizer Medien einfach vergessen? Die Antwort ist viel einfacher: Apple hat sich schlicht die Mühe gespart, die englische Medienmitteilung in irgendeine andere Sprache zu übersetzen.
Phil Schillers Präsentation im New Yorker Guggenheim-Museum wirkte fast schon unverschämt ehrlich. Seine Botschaft ist simpel: «Wir planen eine Bildungsoffensive.» Klingt spannend, doch wie ist Apple vorgegangen? Ebenso simpel: Apple hat das Bildungswesen studiert. In Amerika. Apple hat mit Lehrern gesprochen. In Amerika. Apple hat Verträge mit den wichtigsten Verlegern von Lehrmitteln abgeschlossen. In Amerika.
Vor dem Hintergrund von Apples atemberaubendem weltweiten Wachstum über die letzten Jahre war diese eine Wahrheit fast schon in Vergessenheit geraten; Apple ist noch immer ein uramerikanisches Unternehmen. Gestern ging es nicht um Bildung. Es ging um das Bildungswesen in Amerika. iTunes U ist völlig bedeutungslos in Europa, eigentlich überall ausserhalb der Vereinigten Staaten. Mit Apples Textbook-Offensive wird es sich ähnlich verhalten. Falls sich das Geschäft erfolgreich entwickelt, wird Apple vielleicht auch einen Blick über den grossen Teich wagen. Doch vorerst verschwendet Apple keine Gedanken an den Markt ausserhalb der amerikanischen Staatsgrenzen. Deutlicher hätte dies die gestrige Keynote nicht ausdrücken können.
2.) Cupertinos Zauberformel: Kleiner Aufwand, grosser Ertrag
Phil Schillers Keynote hat eine weitere Eigenschaft Apples einmal mehr eindrücklich unter Beweis gestellt: Apples einzigartiges Gespür für grossartige Produkte. Denn auch wenn der amerikanische Schulbuchmarkt kein Thema ist, welches die Massen mitreisst, so lässt sich nicht leugnen, dass Apples Textbooks auf dem iPad sensationell gut umgesetzt sind und für Lernende ganz sicher einen Mehrwert bringen.
Mit der gestrigen Ankündigung steigt Apple nun in das Vertriebsgeschäft für Schulbücher ein. Was langweilig klingt, ist immerhin ein Geschäftsfeld, welches allein in den Vereinigten Staaten rund zehn Milliarden Dollar schwer ist. Praktisch auf einen Schlag besitzt Apple nun in diesem Markt nicht nur das beste Produkt, sondern auch die Unterstützung der drei grössten Verleger, welche nahezu den gesamten Markt unter sich aufteilen. Man muss kein Prophet sein, um zur Erkenntnis zu gelangen, dass Apple hier die Tür zu einer weiteren sprudelnden Geldquelle schon ziemlich weit aufgestossen hat. Und dabei dürften die Einnahmen aus dem Vertrieb der Bücher über den iBookstore für Apple nur ein Sahnehäubchen darstellen. Die eigentliche Cash-Cow bildet weiterhin das iPad, schliesslich braucht jeder Schüler zur Benutzung der neuen Textbooks ein eigenes Apple-Tablet.
Das Interessante an dieser Geschichte ist, mit welch geringem Aufwand sich Apple anschickt, einen weiteren Markt umzukrempeln. Im Grunde hat Apple gestern nichts wirklich Neues gezeigt. Sieht man von einem kleinen Update für iBooks ab und natürlich von iBooks Author, einem Programm, dessen Code vermutlich zu 90 Prozent aus Keynote und Pages übernommen werden konnte. Der Aufwand, den Apple betreiben musste, um die angepriesene Bildungsoffensive zu lancieren, ist lächerlich klein. Schliesslich waren alle Schlüsselkomponenten schon vorhanden: Das iPad, die iBooks-App und natürlich der iBookstore.
Apple besitzt die einzigartige Fähigkeit, mit extrem kleinem Aufwand zu einem sehr grossem Ertrag zu gelangen. Diese Feststellung meine ich durchaus bewundernd und soll keine Kritik darstellen. Einmal mehr konnte Apple gestern demonstrieren, wie viel das funktionierende iPad-Ökosystem wirklich wert ist. Noch ist das iPad keine zwei Jahre alt und die Konkurrenzsituation auf dem Tablet-Markt verschärft sich zusehends, doch noch immer ist weit und breit kein anderer Hersteller in Sicht, welcher mit vergleichbarer Leichtigkeit solch grossartige Produkte hervorbringt.
3.) Wo das iPad aufhört und der Mac beginnt
Interessant ist auch die Arbeitsteilung zwischen iPad und Mac. Während die neuen, interaktiven eBooks ausschliesslich auf iPads gelesen werden können, benötigt man für die Benutzung von iBooks Author einen Mac.
Diese Tatsache unterstreicht eine Wahrheit, welche sich seit dem iPad-Launch im Jahr 2010 immer stärker offenbart. Während das iPad ein sensationelles Gerät zum Konsum von Inhalten wie Texten, Bildern, Webseiten, Spielen oder Videos darstellt, eignet es sich kaum zur Erstellung eben solcher Inhalte. Die Konsequenz dieser Feststellung liegt auf der Hand: Ein iPad kann einen Mac nicht ersetzen.
Was aus Sicht eines Mac-Fans wahrscheinlich eine erfreuliche Nachricht darstellt, könnte für die Schulen, denen Apple das iPad bekanntermassen im grossen Stil verkaufen möchte, durchaus zum Problem werden. Ich selbst zähle noch zu jener Generation, welche zu Schul- und Studienzeiten mit Notebooks und nicht mit iPads arbeiten durfte. Zu Schulzeiten wurden die Aufsätze auf iBooks (so hiessen einst Apples Notebooks für Consumer…) verfasst, während dem Studium diente mein MacBook Pro als treuer Begleiter. Auch wenn ein iPad zum Lernen sicher toll sein mag, für all jene Aufgabenbereiche, für welche Schulen schon bisher auf Computer gesetzt haben, ist ein iPad völlig unsinnig. Gerade in der Schule geht es häufig nicht nur um den Konsum von Inhalten, sondern auch darum, eigene Texte zu schreiben, etwas zu gestalten, Dinge zu kreieren. Doch hierfür ist ein Mac noch immer sehr viel besser geeignet als jeder Tablet-Computer. Oder wer möchte gerne seine Aufsätze auf einem iPad verfassen?
Lange Rede, kurzer Sinn: Vielleicht wird das iPad (in amerikanischen Schulen) schon bald das herkömmliche Schulbuch ersetzen. Aber es wird kaum das herkömmliche Notebook ersetzen. Und damit kommen wir zum vierten Punkt, der Frage nach der Finanzierung:
4.) Die Gretchenfrage: Wie kommen die iPads zu den Schülern?
Ich habe keine Ahnung, wie die Finanzierung der Lehrmittel an amerikanischen Schulen funktioniert. Werden die Bücher durch die Schulen zur Verfügung gestellt oder muss jeder Schüler die Bücher selbst bezahlen? Nur eins weiss ich mit Sicherheit: Wenn die Bücher durch iPads ersetzt werden, dann wird es entweder für die Schulen oder für die Schüler ganz schön teuer.
Apples Konzept mit den interaktiven Textbooks für die Schule kann erst dann richtig funktionieren, wenn ganze Klassen damit ausgerüstet werden und jedem Schüler dieselben Lehrmittel zur Verfügung stehen. Es braucht also für jeden Schüler ein eigenes iPad.
Nun könnte man einwenden, dass viele Kids wahrscheinlich ohnehin schon ihr eigenes iPad besitzen. Nur halte ich es für illusorisch zu glauben, dass jemand freiwillig das eigene iPad für den Kauf interaktiver Schulbücher verwendet. Viele der Bücher im iBookstore benötigen zwischen zwei und drei Gigabyte Speicherplatz, im Schnitt dürften es rund eineinhalb Gigabyte sein. Selbst wenn man nur schon vier oder fünf solcher Bücher herunterlädt, hat man den Speicher eines 16-GB-iPads bereits locker zur Hälfte voll. Will man alle seine Schulbücher auf dem iPad haben (wie es Apple ja vorsieht), dann bleibt nicht mehr viel Speicher für Apps, Spiele, Bilder und Videos übrig.
Also erscheint es sinnvoller, wenn die Schule selbst die iPads stellt? Am besten wäre gleich ein Modell mit 32 oder 64 Gigabyte Speicher. Weitere Kosten fallen durch den Kauf der Textbooks selbst an. 15 Dollar für ein Buch mag nach wenig klingen, durch die (jährlichen?) kostenpflichtigen Updates dürften sich aber auch diese Ausgaben summieren. Doch das grösste Problem dürfte darin liegen, dass ein iPad spätestens nach rund zwei Jahren überholt ist und ersetzt werden muss. Wenn im Frühjahr das iPad 3 erscheint, dürfte es kaum lange dauern, bis die Software-Unterstützung für das erste iPad nachlässt. Verglichen mit dem ersten iPad wird das iPad 3 voraussichtlich rund die vierfache Rechenleistung und womöglich eine um mehr als Faktor 50 bessere Grafikleistung aufweisen. Da macht es aus Entwicklersicht bei vielen Apps schlicht keinen Sinn mehr, die alten Geräte weiterhin zu unterstützen. Rechnet man alles zusammen, so ist die Frage ganz sicher berechtigt, ob sich der flächendeckende Einsatz von iPads in Schulen bereits jetzt wirklich lohnt.
5.) Zu guter Letzt: Das Retina-iPad kommt, iWork ‘12 kommt nicht
Ein letzter Punkt: Manchmal lassen Apple-Events bereits erste Rückschlüsse zu, mit welchen neuen Apple-Produkten in naher Zukunft gerechnet werden darf. Oder eben nicht gerechnet werden darf. In meinen Augen sollte man nach der gestrigen Keynote nicht damit rechnen, dass das überfällige Update für iWork (iWork ‘12?) in Kürze erscheinen wird. Zwar wurde iWork seit drei Jahren nicht mehr nennenswert aktualisiert (zuvor erschien alle 12-18 Monate eine neue Version), aber es erscheint unwahrscheinlich, dass Apple direkt nach der Einführung von iBooks Author mit neuen Versionen von Pages und Keynote aufwarten wird. Denn ein neues iWork-Paket würde mit Sicherheit auch Anpassungen an iBooks Author nach sich ziehen.
Gestiegen ist hingegen die Wahrscheinlichkeit für ein iPad mit hochauflösendem Retina-Display. Die Grafiken, welche iBooks Author beispielsweise für das Buchcover produziert, sind jedenfalls bereits für die Anzeige auf hochauflösenden Displays optimiert. Man darf also gespannt sein…
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2 Kommentare
Kommentar von Thomas Meichtry
Kommentar von mbl
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