Apple Newton: Im Kreuzfeuer des Digital Hub

Verfasst im Juni 2005

9. Januar 2001, San Francisco, USA, 10:00 Uhr: Gekleidet mit schwarzem Rolli, dunklen Jeanshosen und Tennisschuhen hält Apples Messias Steve Jobs seine Predigt. Es ist MacWorld Expo. Wieder einmal bricht ein neues Zeitalter an. Mit aller Kraft stemmt Steve sein jüngstes Luftschloss in die Höhe, Apples Jünger halten es in der Luft und nehmen dem Führer seine Last ab. Die Rede ist vom Digital Hub, dem dritten goldenen Zeitalter der Computergeschichte, welches die Internetära beerbt. Angeblich. Die Botschaft ist klar: Der Macintosh lebe ewig, neu als Verkörperung des Digital Lifestyles in Form eines Drehkreuzes für jegliche Geräte des digitalen Zeitalters. Digitalkamera, Videorekorder, MP3-Player und andere Errungenschaften der letzten Jahre sind Boten des neuen Zeitalters, doch der Kern, der Hub, welcher alles zusammenhält, bleibt. Es ist der Macintosh, der äonenübergreifende Dreh- und Angelpunkt des Computerdaseins. Doch ist er das wirklich? Anscheinend ja. Mit einer einzigen Rede bringt Steve seine Anhänger zu einem Loyalitätsbekenntnis, die Nachfrage nach den neuen Macs ist gewaltig, selbst nach Monaten kämpft Apple noch gegen Lieferengpässe. Schliesslich können die neuen Macs jetzt CDs brennen, wegen dem Digital Hub. Und sie können DVDs brennen. Und Pentiums. Doch eines können sie nicht: Aus ihrer Existenz als unter dem Schreibtisch stehende - wenn auch hübsch anzusehende - Kisten, ausbrechen, um dem Menschen ein Stück näher zu kommen und damit das wahre neue Zeitalter zu begründen. Denn das, das hat nur einer geschafft: Newton.

Drehen wir die Zeit um acht Jahre zurück, werfen wir einen Blick auf die Geburtsstunde des Apple Newton:

John Sculley, Jobs Gegenpol und Nachfolger bei Apple, steht auf dem Podium der Symphony Hall in Boston und kündigt den Newton an. Den langersehnten Newton. Der Newton kann alles, was ein Personal Computer auch kann, nur einfacher, schneller und komfortabler. Und ohne PC. Der Newton erkennt die Handschrift des Benutzers, kann Dokumente effizient und intelligent verwalten und mit allerlei Geräten kommunizieren. Man kann ihn überall hin mitnehmen. Kein Zweifel, der Newton bildet den wahren Digital Hub. Doch leider sagt uns das niemand, wir wissen es gar nicht. Denn obwohl der Newton alles kann, was der Mac auch kann, fehlt ihm etwas: Das Luftschloss, der Steve Jobs-Effekt.

Your World. Your Newton.
Your World. Your Newton.

Newton wurde zu einem schwarzen Fleck in Apples Geschichtsbüchern, ein Flop sondergleichen. Nur 300’000 Exemplare wurden verkauft, 1998, weniger als fünf Jahre nach seiner Geburt, wurde der Apple Newton still und leise begraben. Doch gestorben ist er bis heute nicht. Newton sollte der Schwerkraft trotzen, er war seiner Zeit weit voraus. Newton sollte den Personal Computer beerben und die Standards des 21. Jahrhunderts setzen. Und er hat es geschafft, Newton hat die Schwerkraft überwunden, er hat überlebt! Steve Jobs höchstpersönlich kramte den Newton hervor und formte ihn um; es entstand der iPod, Apples mächtigstes Standbein in der Welt des digitalen Lebensstils. Irgendetwas muss dran sein, an der Faszination Apple Newton und der Idee, mit einem Digital Hub in ein neues Zeitalter einzutreten.

Heute denken viele Apple-Fans mit Wehmut an die Zeiten des Newtons zurück; immer mit dem Gefühl, dass Apple mit dem Newton nicht nur ein Produkt, sondern eine Ideologie, um nicht zu sagen eine Lebenseinstellung, begraben hat. Sein Name erinnert an den Geist des ersten Apple Logos, welches Isaac Newton unter einem Apfelbaum sitzend darstellte. Der Newton begründete eine völlig neue Gerätekategorie, die persönlichen digitalen Assistenten (PDA). Das Ziel der Entwickler war es, der Technologie etwas über den Menschen beizubringen. Nicht der Mensch sollte lernen, einen Computer zu bedienen, sondern der Computer sollte unsere Sprache sprechen. Dieses Ziel verlor Apple während der sechseinhalbjährigen Entwicklungszeit nie aus den Augen. Mit dem Newton MessagePad entstand ein Gerät, welches die menschliche Handschrift lesen und sogar verstehen kann. Zudem ist der Newton klein und handlich, er passt in eine Jackentasche und lässt sich überallhin mitnehmen.

MessagePad 130
MessagePad 130

Vom Newton verkaufte Apple während den knapp fünf Jahren seines Bestehens lediglich einige hunderttausend Exemplare, viel zu wenig, um profitabel wirtschaften zu können. Der Newton kam zu spät auf den Markt, kostete mit 699 Dollar eine stattliche Summe Geld und hatte mit erheblichen Kinderkrankheiten zu kämpfen. Wer das Wort Newton hörte, dachte automatisch an die unzuverlässige Handschrifterkennung. Die Konkurrenz machte es vor, wie ein erfolgreiches Produkt auszusehen hatte. Palm verkaufte innert kürzester Zeit eine Million Handhelds, die zwar weniger leistungsfähig und durchdacht, dafür aber klein, leicht und günstig waren. Dadurch traten die PDAs zwar ihren Siegeszug an, doch mit der Philosophie des Newtons hatten sie nichts mehr gemein. Newton sollte die PCs ersetzen, die PDAs der Konkurrenz hingegen sollten die Möglichkeiten des PCs erweitern.

Unterdessen gelten PDAs und Konsorten als veraltete Technologie. Der digitale Hub hat sie eingeholt, im Zeitalter von Multimedia-Handys sind sie überflüssig. Dies gilt nicht für den Newton. Der Pionier unter den PDAs zieht die Menschen noch immer in seinen magischen Bann. Newton, seine Hardware und seine Software, blieben bis heute unerreicht. Jeder, der einmal einen Newton in der Hand halten durfte, wird wissen, weshalb die Geräte heute mehr Wert denn je sind. Allein schon die Handschrifterkennung ist faszinierend und einzigartig. Man kann irgendwo auf dem grossen, berührungssensitiven Display eine Notiz aufschreiben, und dabei entscheiden, ob der Newton diese in Textdaten umwandeln soll oder nicht. Zeichnet man einen Kreis, so wird dieser automatisch geglättet und sieht auch wirklich wie ein Kreis aus. Alle Eingaben sind jederzeit editierbar. Man spürt, dass das NewtonOS kein abgespecktes Desktop-System ist, sondern ein System, welches optimal auf die Bedienung durch einen Stift zugeschnitten ist. Um einen Palm zu bedienen, muss man dessen eigene Schriftsprache, Graffiti - übrigens ein verworfenes Produkt aus der Newton-Entwicklung - , erlernen, der Newton liest normale Handschriften, seit Version 2 des NewtonOS stimmt auch die Zuverlässigkeit der Schrifterkennung, nachdem diese bei den ersten Geräten noch mangelhaft war. Doch die Software des Newtons kann noch mit ganz anderen Features glänzen. Dank dem objektorientierten Systemaufbau geht die Programmierung rund zehn Mal so schnell wie beim klassischen Mac OS, die Programme arbeiten enorm effizient und benötigen ein Minimum an Speicher. Alle Applikationen können untereinander Daten austauschen, ohne dass es zu Kompatibilitätsproblemen kommt. Die Datenbank-Engine des Newtons arbeitet mehr als 500 Mal so schnell als diejenigen der Konkurrenz. Der Bildschirminhalt lässt sich beliebig drehen, ohne dass Programme beendet werden müssten.
Auch die Hardware weiss zu überzeugen. Schon der erste Newton lief auf einem RISC-Prozessor, einer Technologie, die erst später in die Personal Computer Einzug hielt. Die Auflösung der grossen Displays lässt sich stufenlos verändern. Auch die Rechenleistung ist atemberaubend, schon 1997 werkelten im Newton Prozessoren mit 166 Megahertz, so viel wie damals in doppelt so teuren PCs. Newton ist der einzige PDA, welcher über einen eigentlichen Arbeitsspeicher verfügt, bei den letzten Modellen sind es 4 Megabyte. Damit verliert der Newton auch nach Jahren ohne Akkutausch keine Daten..

Newton ist ein eigenartiges Produkt. Zu seinen Lebzeiten wurde er belächelt. Nur eine kleine Gemeinde erkannte sein Potenzial. Das Potenzial des Digital Hub. Dies wäre seine Berufung gewesen, seine Bestimmung, sein Durchbruch. Die Geräte verfügten über Netzwerk- und Infrarotanschlüsse, über einen seriellen Port und zwei Erweiterungsslots. Erst nachdem Apple in Logan, Utah, 30’000 Newton MessagePads begraben hatte, erkannte man die grosse Lücke, welche der Newton hinterliess. Noch immer schwirrt Newton in den Köpfen seiner Gemeinde, er hat nichts von seiner Faszination eingebüsst. Regelmässig werden Messen und Ausstellungen rund um den Newton organisiert, es erscheinen neue Programme und Erweiterungskarten, die den Newton für die Zukunft rüsten. Bis heute träumen viele Newton-Fans von einer Auferstehung des Gerätes, doch die wird es nie geben. Steve Jobs wird sich hüten, John Sculleys Baby in der alten Form nochmals aufleben zu lassen. Der PC hat gesiegt, die Zukunft wird für immer Vergangenheit bleiben.

Bildergalerie